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In seinem Spätwerk entwickelte der französische Philosoph Michel Foucault die Idee der Selbstsorge, die auf eine antike Ethik zurückgeht (Platon, Sokrates) und die für einen wichtigen Bestandteil des SIVUS-Konzeptes - die Reflexion - eine Erläuterung bieten kann (Foucault, 1993, Steinkamp, 1998). Foucault beschrieb in einem früheren Werk (Foucault, 1961) die Veränderungen der frühen französischen Psychiatrie und die Auswirkungen der totalen Institution (Goffman, 1973) auf die Freiheitsgrade auch der Beschäftigten. Er meint, dass das Konzept der
Selbstsorge eine Möglichkeit ist, sich in der Institution eine innere Freiheit zu bewahren und sich gleichzeitig gegenüber der Versuchung zu schützen, strukturelle Macht über die betreuten Menschen auszuüben (vgl. Jantzen, 1993, S.184ff). Selbstsorge steht im Mittelpunkt der hellenistischen Ethik als einer
"Praxis der Freiheit des menschlichen Subjekts" (Steinkamp, 1998). Sie definiert
eine "Verhaltensweise sich selbst und den anderen, ja allem gegenüber: wie man die Welt betrachtet, wie man Handlungen ausführt, wie man sich auf andere bezieht; sie ist eine Selbstbeobachtung dessen, was man
denkt, was in diesem Denken geschieht und wie es vor sich geht; und sie eine Weise der Selbstbehandlung, mit der man sich selbst verpflichtet, reinigt, transformiert und modifiziert" (Becker, 1993, S.30). Der
Kern der Selbstsorge ist die (tägliche) Bereitschaft zur Selbstreflexion und zur Blickveränderung. Der Schlüssel zur Bewahrung der eigenen Gesundheit liegt in dieser Art von Meditation und Gewissensprüfung und dem
Streben nach Erkenntnis und Wahrheit. Dieses fördert persönliches Wachstum und persönliche Souveränität. Für Foucault gelten diese Aussagen jedoch ebenso für die Auseinandersetzung mit anderen - beispielsweise im
Team: "Indem man sich mit sich selbst befasst, befähigt man sich dazu, sich mit anderen zu befassen. Zwischen dem Sich-mit-sich-Befassen und dem Sich-mit-anderen-Befassen besteht ein Finalitätsband"
(Foucault, 1993, S.43). Ich brauche andere, um zu Wahrheit und Selbsterkenntnis zu gelangen. Fremdbestimmung, Außenlenkung und die Unfähigkeit zu subjekthafter Entscheidung sind dabei kontraproduktiv. Foucault
thematisiert im Kontext der Freiheitspraxis des Subjekts in der Betreuungsarbeit die Gruppe. Im Prozess der Subjektwerdung "haben andere Mitglieder der (...) Gemeinschaft eine entscheidende Rolle zu spielen,
als notwendige Agenten, die jemanden in die Lage versetzen, die Wahrheit über sich selbst zu entdecken" (Foucault, 1996, S.119). Diese Auffassung Foucaults begründet eine konstruktive Auseinandersetzung in
der Gruppe, wie sie Walujo im SIVUS-Konzept fordert. Mit dem Verweis auf die andere besitzt das Konzept der Selbstsorge auch nach Foucault eine politische Dimension. Das Annehmen der anderen und die Auseinandersetzung mit anderen fördert
Flexibilität, Solidarität und die Fähigkeit, eine tiefergehende Wahrheit im Miteinander zu finden. Als Zeichen mangelnder Selbstsorge beschreibt Foucault Machtausübung über andere. Die innere Freiheit und
Souveränität spiegelt dabei die Gesellschaft und die Institution wider. Aussondernde Institutionen wie eine aussondernde Gesellschaft zeigen ein Fehlen von Selbstsorge an. Der Selbstsorge Michel
Foucaults folgt in den Worten des SIVUS-Konzeptes die Notwendigkeit, anderen Raum geben, sie zu begleiten und eine prinzipielle Offenheit im Team zu schaffen für den gegenseitigen Austausch und das Nachdenken über
Handlungsalternativen. Selbstsorge schützt vor Machtausübung; durch eine Offenheit im Team kann eine wirksame Kontrolle und Prävention von struktureller Macht stattfinden. Andererseits ist Offenheit im Team
Voraussetzung für Selbstsorge, da diese nur in einer offenen, solidarischen Atmosphäre gedeiht. Das Ziel der Selbstsorge wie der Annahmen im SIVUS-Konzept ist in den Worten Foucaults "Subjektwerdung"
über den Austausch mit anderen, die Suche nach subjektiver Wahrheit und Erkenntnis. Selbstsorge ist damit Praxis von Freiheit in der Institution, die Frage nach dem Willen der Beteiligten und der Umsetzung von
Selbstbestimmung.
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